Luis Stabauer

 

Brüchige Zeiten, ein europäischer Entwicklungsroman, Luis Stabauer,
erschienen im August 2020, im Hollitzerverlag, Wien, ISBN: 978-3-99012-808-4

 

Lucía ist vierzig, als sie ihren Job verliert. Fabian, ihr 17-jähriger Sohn kommt ihr abhanden, er driftet nach rechts, wird Mitglied der Identitären Bewegung. Der Mann und Vater hat die Familie schon vor Jahren verlassen. Fabians Scheidungsfolge ist ein Internats-Aufenthalt.

Lucía befreit sich von alten Zwängen und Vorstellungen, tauscht ihre Wohnung  gegen ein Wohnmobil und bricht auf. Quer durch Europa begibt sie sich auf die Suche nach einer möglichen Zukunft – für sich, aber auch für die anderen, für alle.

Zurück in Wien, wird sie nach einer politischen Aktion verhaftet und landet im Frauengefängnis Schwarzau. Noch einmal verlässt sie Wien und sucht ein neues Lebensgefühl in Bulgarien. Ihrem Sohn, dessen politische Karriere inzwischen steil nach oben geht und der nun die Chance hat, im Bundeskanzleramt mitzumischen, ist sie trotzdem ein Hindernis.

Dem Roman kommt mit dem Abtriften der ÖVP ins türkise, rechtsnationale Lage zusätzliche Präsenz und Brisanz zu.

…. Mit siebzehn wollte ihr Sohn nicht mehr mit ihr reden. Vor der Matura. im Juni 2018 stimmte er doch einem Gespräch zu.

 

Auszug aus dem Roman:

Für einen Samstag im März vereinbarten sie ein gemeinsames Frühstück. Bereits am Tag davor gestaltete Lucía den Tisch mit bunten Servietten, einem Osterstrauch und einem großen Schokolade-Hasen, die er so gern hatte. Um sich auf das Gespräch mit Fabian einzustimmen, ging sie hinauf. Das Schafzimmer mit dem Balkon, das Bad und sein Zimmer waren in der oberen Etage untergebracht. Fabian war für die Ordnung in seinem Zimmer selbst verantwortlich, das hatten sie bereits vereinbart, als er noch im Internat gewesen war. Sie kontrollierte es kaum. Wenn die Haushaltshilfe angesagt war, hatte er zumindest den Boden leergeräumt, das bestätigte diese. Diesmal wollte sie bei ihm aufräumen, darüber hatte er sich schon als Kind gefreut. Aha, der Kasten ist um 90 Grad gedreht und das Bett steht an der Wand.

Am Kasten hing ein neues Plakat. In großer Schrift leuchteten ihr die Worte entgegen:

Gott ist immer mit den starken Bataillonen! (Friedrich der Große)

Gott in Frakturschrift und Bataillone! Lucía schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. Habe ich die Faschisten im eigenen Haus? Sie hielt sich am Türstock fest, ihr Schwindelgefühl wurde weniger und sie ging näher hin. Iboesterreich stand ganz klein am unteren Rand. Die Identitären! Sie wusste im Moment nicht, was sie tun konnte. Wen konnte sie anrufen? Wer konnte wissen, woher solche Plakate kommen? Kam es von diesem Deutschlehrer?

Lucía riss den Kasten auf und wühlte in Fabians T-Shirts. Sie hielt ein gelbes Shirt in der Hand. IDENTITÄRE BEWEGUNG und Heimat – Freiheit – Tradition war darauf zu lesen.

„Verdammte Scheiße“, schrie sie, setzte sich auf Fabians Bett und vergrub ihr Gesicht in den Händen. So verharrte sie einige Zeit. Draußen begann es zu dämmern, sie knipste das Licht an. Ohne weiter nachzudenken, hob sie die Matratze ein wenig. Aufkleber kamen zum Vorschein. Auf einem rot-schwarzen Sticker stand in großen Buchstaben BLOOD IN – BLOOD OUT, Burschenschafter mit Schwertern waren abgebildet. Auf einem anderen war MERKEL MUSS WEG aufgedruckt.

Sie hörte Fabians Schritte auf der Stiege. Er sprang herein: „He, was soll das! Das ist deine Verbotszone!“, schrie er.

„Was! Was?“, schrie Lucía zurück und hielt ihm mit der einen Hand das T-Shirt, mit der anderen einen Aufkleber vor das Gesicht.

„Geh! Verschwinde, sofort! Das geht dich nichts an!“

„Und ob mich das was angeht. Ich bin deine Mutter, und das ist meine Wohnung. Woher hast du das? Ich will eine Antwort, hier und jetzt!“

„Nein! Verschwinde!“ Es war das erste Mal, dass sich ihr Sohn vor ihr aufbaute.

„Sei vorsichtig. Ich verlange von dir eine plausible Erklärung.“

„Nichts werde ich erklären. Du hast kein Recht, in meine Sachen zu wühlen. Raus aus meinem Zimmer! Es stimmt, mit dir redet man am besten nicht.“

„Was, mit mir redet man nicht? Wer sagt das? Steckt da dein Vater dahinter? Setz dich hierher und rede!“

„Raus“, schrie Fabian nochmals, „und lass Papa endlich in Ruhe!“ Er machte einen Schritt auf seine Mutter zu. Kurz hob er den Arm.

„Du bist eine Volksverräterin! Meine Freunde und ich verteidigen das Eigene. Und du? Du bist immer noch für die illegale Grenzöffnung.“

Lucía atmete einmal kräftig aus, öffnete die Arme und versuchte einen Schritt auf Fabian zuzugehen. Er wich zurück.

„Bitte Fabs“, sagte sie mit leiser Stimme, „kannst du nicht erkennen, dass die, die vom Eigenen reden, Rassisten sind?“

„Typisch Linke. Wenn ihr nicht mehr weiterwisst, sind alle, die nicht eurer Meinung sind, Rassisten oder Faschisten. Wir werden die Islamisierung Österreichs nicht zulassen.“

Lucía setzte sich nochmals auf Fabians Bett.

„Steh auf! Verschwinde aus meinem Zimmer, sonst riecht mein Bett nach dir.“ Seine Stimme überschlug sich.

Lucía schloss kurz die Augen und erhob sich.

„Gut, du willst es nicht anders. Nimm diesen Mist und was du sonst noch brauchst. Fahr wieder zu Papa. Mach deine Matura, vielleicht bist du danach bereit, mit mir zu reden.“

Sie drehte sich um, ging vor die Tür und zählte bis zehn. Dann bewegte sie sich die Stiege hinunter. Langsam. Der Handlauf gab ihr einigermaßen Sicherheit. Im Wohnzimmer suchte sie ihr Telefon.

 

Luis Stabauer lebt als freier Schriftsteller in Wien und Seewalchen am Attersee. Als Zeit- und Welt-Reisender beschäftigt er sich hauptsächlich mit Menschen und deren gesellschaftspolitischen Bezugsrahmen in Europa und Lateinamerika. Zuletzt erschienen die Romane Wann reißt der Himmel auf (2014), Atterwellen (2015), Die Weißen (2018), und der Gedichtband „UND“ (2020).